Abgelenkt

Der langweilige Blog eines langweiligen Schriftstellers.

Freitag, Juni 29, 2007

Selbstmord(versuch)?

Jeder meiner Mitbürger weiß vom Kulturfest, das am kommenden Sonntag am Neutraublinger See stattfinden wird. Im Vorfeld wurde bereits rund um das Seegelände mit dem Bühnenbau begonnen. Durch mein gekipptes Fenster meinte ich sogar schon gegen Abend einen Soundcheck zu vernehmen. Es ist aber durchaus möglich dass das Hotel am See wieder für eine Hochzeitsfeier oder dergleichen herhalten muss und eine Band laut spielt. Wie dem auch sei, als Resultat meiner Spekulationen wunderte es mich nicht, dass eine Privatperson mit einer Taschenlampe über den See leuchtete ("vielleicht nur'n Werkzeug verloren"). Stutziger wurde ich als die Polizei hinzukam und sich Feuerwehr-Sirenen zum immer noch präsenten "Soundcheck-Gedudel" gesellten. Was zum Henker ist los?
Ich sitze die ganze Zeit über vorm PC und sehe zu wie eine Frau einen in ihren Arsch geschobenen Football aus verschiedenen Kamerawinkeln rauskackt. Als das Video endet schaue ich nach rechts, raus zum Fenster. Verstörendes Farbspiel von Blau- und Warnlicht. Taschenlampen flimmern über die Seeoberfläche. Ein Streifenwagen, zwei Feuerwehrautos. Ist ein Kind ins Wasser gefallen? Meine Hand reißt die Schublade meines Schreibtischs auf und tastet planlos nach der Digitalkamera als ich bemerke, dass der Schein meines Monitors nicht reicht um genug sehen zu können. Da ist sie. Wenigstens ein Bild vom Fenster aus, dass man im Blog veröffentlichen kann. Batterien sind leer. Ich weiß wo neue sind, lasse es aber und schäme mich dafür, ein Foto schießen zu wollen. Ich gehe nach draußen. Eine Gruppe volltrunkener Abiturienten torkelt an mir vorbei und brüllt Sauf-Lieder. Die halbe Nachbarschaft starrt aus den Fenstern. Damit niemand denkt ich ginge zum Gaffen raus, mache ich einen kleinen Umweg. Von der anderen Seite des Sees aus, kann ich beobachten wie vier Männer einen leblosen Körper die Stufen vom Steg zum Gehweg hochtragen. Menschen stürmen zur Unfallstelle. Die Polizei weist zurecht und droht. Ich stehe da und komme mir vor ein arschgefickter Schaulustiger, wie ein todesgeiler Snuff-Fetischist, kurzum: Mein Geist rät mir umzudrehen und mein Gesicht zu wahren; meine Füße streifen sich an meinem Gesicht ab und tragen mich soweit hinein, dass ich gerade noch etwas sehen kann. Was will ich sehen? Dass dieses Arschloch, wer immer es auch ist, diese Scheiße überlebt.
Sanitäter wechseln sich bei der Herzdruckmassage ab. Von Mund-zu-Mund-Beatmung bekomme ich nichts mit. Zu meiner Verwunderung also keine Herz-Lungen-Wiederbelebung? Notärzte, Polizei und Feuerwehr waren anwesend, also vertraue ich einmal auf deren Fachwissen und Technik. Eine Gruppe von Russen steht nahe am Unfallplatz und einer zückt die Handykamera. Von einem Polizisten am Fotografieren gehindert werden Sie des Platzes verwiesen. Ich höre Passanten sagen dass einer bemerkt hätte, dass ein anderer runter zum See ging und nach einiger Zeit nicht mehr zurückkam. Im Wasser schwimmt ein Schlauchboot. Die Sanitäter wechseln sich bei der HLW mit Leuten der Feuerwehr ab. Zwei halten einen Teppich hoch um dreisten Gaffern die Sicht zu versperren. Vier gelbe Entenkücken schwimmen von ihren Eltern getrennt in Richtung Leben-und-Tod-Theater und rechnen wohl mit ein paar Brotstücken. Der Wiederbelebungskampf dauert lange. Ich nehme die Hände aus der Tasche, falte sie - zuerst zögernd, dann heimlich, für niemanden sichtbar - zum Gebet und frage mich was dieser Vollidiot da unten gesucht hat. Kurze Piepgeräusche gefolgt von einem langanhaltenden Pfeifton. Die Szenerie wiederholt sich einige Male bis eine Ferno-Trage neben den leblosen Körper geschoben wird. Ein Mann von dem ich nicht weiß ob er Sanitäter oder Feuerwehrler ist, setzt die Herzdruckmassage fort während alle anderen Helfer sich zerstreuen und es sieht so aus als ob er seine eigenen Pump-Bewegungen gar nicht mehr aktiv wahrnimmt. Ein Mann nur mit Unterhose bekleidet setzt sich pitschnass neben einen Feuerwehrwagen. Er bekommt nach wenigen Sekunden einen Mantel umgehängt und steigt langsam ins Auto. Ich denke dass es ein Mann ist, den sie auf die Trage heben. Hat er seinen Arm angehoben? Ist er am Leben? Er wird in den Krankenwagen geschoben. Dort setzt man die Herzdruckmassage fort. Mit Fragen im Kopf verlasse ich den Schauplatz. Das wäre nicht das erste Mal dass sich jemand im See ertränkt. Meine Oma, ja sogar fast meine ganze Familie hat vor vielen Jahren zufällig einmal eine "angeschwemmte" Leiche gefunden und mein derzeitiger Chef hat mir vor einigen Wochen gesagt, dass es vor meiner Zeit fast jährlich solche Fälle hier gegeben hätte. In dem Viertel in dem ich wohne horcht man schon nicht mal mehr auf, wenn einer sagt, dass ein anderer sich umgebracht hätte. Erhängen und Ertränken liegen ungefähr gleichauf und mir reichen meine zwei Hände nicht mehr zum Aufzählen mir bekannter Fälle. Nirgendwo anders wüsste ich Ähnliches. Selbstmorde scheinen sich aus einen mir unerfindlichen Grund in meiner näheren Umgebung zu konzentrieren. Mit Selbstmord bin ich fast schon aufgewachsen. In meinem Familienstammbaum gibt es einige Suizide. Aber bis jetzt ist ja noch nicht einmal gesagt ob es heute - nein, ich korrigiere mich, es ist vor mehr als einer Stunde, also noch gestern passiert -, ob es gestern wirklich Selbstmord war. Mein Opa meinte dass ein Angler dort in der Nähe gesessen sei und bekannt dafür ist, die ganze Nacht durchzuangeln. Ob der's war? Unfall? Besoffen vom Stuhl gefallen? Selbstmord weil wieder kein Hecht am Haken war? Soweit ich mehr weiß schreibe ich darüber. Im Moment dürfte ich mal wieder der Erste sein, der von so'ner Scheiße öffentlich berichten konnte. Zweifelhafte Ehre?


Noch was:
Mit meiner Gaffer-Aktion habe ich keine Rettungskräfte behindert. Aber wie verhält man sich eigentlich bei so einem Vorfall? Ich wollte wirklich nur sehen dass dieser Scheißdepp überlebt und bei Gott, ich betete sogar für ihn (das erste Mal seit langem, die Effektivität sei mal dahingestellt). Warum komm ich mir dabei nur so schrecklich beschissen vor? Bin ich Opfer der Sensationsgier? Wäre es moralisch besser gewesen zu Hause am Fenster mit einem Fernglas zu stehen? Irgendetwas sagt mir dass ich aus Respekt lieber wegschauen sollte, außer ich habe die Möglichkeit aktiv zu helfen. In einem früheren Eintrag habe ich es schon gesagt: Es ist wichtig mit Erste-Hilfe-Maßnahmen vertraut zu sein. Kauft euch Bücher, besucht Kurse (sind meistens umsonst) und frischt ggf. euer Altwissen auf! Diese Bequemlichkeit von der ich selbst nicht verschont bin und die uns davon abhält, uns einmal ein paar Stunden mit dem Thema Erste Hilfe zu beschäftigen, ist ein dicker Batzen Scheiße! Vielleicht werden wir unser ganzes Leben nie in die Situation kommen aktiv Erste Hilfe leisten zu müssen um ein Leben zu retten, ich möchte aber nicht zu denen gehören, die vollkommen planlos an eine Unfallstelle kommen und nicht wissen, wie man ein herausgefallenes Gehirn wieder richtig rum einsetzen muss. Ernsthaft, fragt euch selbst wie viel ihr über den Scheiß wisst. Ich möchte nicht verrecken nur weil so ein faules Arschloch nicht weiß wie es mich zu retten hat! Ich zieh mir jetzt das Football-Kacken nochmal rein und geh dann ins Bett. Sinn- und Rechtschreibfehler könnt ihr auf einen Football schreiben und euch in den - ihr wisst schon...

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6 kommentare von leuten die ich nicht kenne:

At 12:38 AM, Blogger Roger B. Nigk sagt ungefragterweise...

Krass, der Eintrag zählt sogar noch unter den 29. Juni! Das heißt dann wohl "Doppeleintrag first time ever". PARTY, IHR MUSCHIS!!!!!!!!!!!!!

 
At 10:21 AM, Blogger Roger B. Nigk sagt ungefragterweise...

Update: Angler kann's nicht gewesen sein. Sitzt immer noch am See und wichst sich die Rute...
Außerdem fällt mir auf dass die Zeitangaben meiner ganzen Einträge nicht stimmen, obwohl ich ganz genau weiß dass ich vor kurzem erst wieder die Zeitzone im Blogger-Menü korrigiert habe.

 
At 9:10 PM, Anonymous Anonym sagt ungefragterweise...

Scheiße Mann, das erinnert mich echt daran, dass ich Erste Hilfe das letzte Mal zum 18. Geburtstag (=Führerschein) geübt habe...
Ich bin ganz klar Deiner Meinung, ich meine, bis jetzt ist mir in 7 Jahren noch keine Erste-Hilfe-Situation über den Weg gelaufen, aber was wenn dies morgen passiert?
Was wäre, wenn es jemand ist, der UNS wichtig ist?
Was wäre, wenn es jemand ist, der JEMAND ANDEREM wichtig ist?
Egal wem das was passiert, es gibt mindestens einen Menschen, dem dieser Mensch eine große Rolle in dessen Leben erfüllt.
Mal ohne Scheiß, Du hast mir die Augen geöffnet...

 
At 9:17 PM, Anonymous Anonym sagt ungefragterweise...

Nachtrag: Als ein Mensch, der an Intuition und ein kleines bisschen an Spiritualität glaubt, möchte ich noch eines sagen:

Deine Anwesenheit bei diesem tragischen Ereignis muss und darf Dir auf keinen Fall ein schlechtes Gewissen bereiten, denn ich bin mir zu 100% sicher, dass dieser Mann Deine Gebete und Deine Gedanken, als auch die Hilfe und die Hoffnung der gerufenen Helfer gespürt hat. Ich stelle mir vor, wenn ich einmal sterbe, dann möchte auch die Liebe, die Hoffnung und die Gebete der Anwesenden, und seien noch so fremd, spüren. Es ist das Letzte, was man auf dieser Welt, und es ist die pure Menschlichkeit, wenn es Leute gibt, die einen nicht kennen, sich aber um einen sorgen und hoffen, dass man "diese Scheiße" überlebt...

 
At 10:09 PM, Blogger Lady Ciriel sagt ungefragterweise...

Warum begehen aufeinmal so viele Leute Selbstmord? Ist fast schon wie eine Modeerscheinung...

 
At 8:16 PM, Blogger Roger B. Nigk sagt ungefragterweise...

Das freut mich, Mic. Jetzt ist der nächste wichtige Schritt halt nur noch, wirklich sein Wissen aufzufrischen und das scheitert meist an zu wenig Zeit und ungeteilter Aufmerksamkeit, ich weiß das selbst. Wie viele Anläufe ich z. B. brauchte bis ich mich vor Jahren mal wieder durchringen konnte einen Kurs zu besuchen. Besonders hinterfotzig ist ja noch, dass ich nur'n paar Meter gehen muss um nen Kurs besuchen zu können, trotzdem hab ich's damals immer vor mir hergeschoben.
Mein Führerschein is ja noch gar nicht so lange her - hab ihn ja stark verspätet erst im Oktober letzten Jahres gemacht - weiß ich sogar noch, dass ein Auffrischungskurs beim Hauptbahnhof kostenlos ist (ob man dafür einen Zettel vorlegen muss der den früheren Besuch bezeugt weiß ich nicht, glaube aber das entfällt wenn man keinen direkten Nachweis für den aktuellen Kursbesuch braucht). Erste Hilfe beginnt ja schon bei Schürfwunden und Nasenbluten. Ich könnte kein Kind auf die Welt setzen wenn ich nicht so gut es geht mit der Ersthilfe vertraut bin.

 

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