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Er hat sich auf die Waage neben mir gestellt. 82 Kilo. Nicht viel wenn man bedenkt dass da schon mal über 100 angezeigt wurden. Fast fiel er um, als er sich draufstellte. Kein Gleichgewicht. Er meint jeden Tag 2 Kilo abzunehmen, was totaler Schwachsinn ist. Aber als er sich das letzte Mal wog (nicht lang her) waren tatsächlich noch 2 Kilo mehr drauf.
Vor ein paar Tagen hatte er hohes Fieber, hat halluziniert, war nicht schön. Ich war in der Arbeit, wusste von nichts. Sie war allein mit ihm. Der Arzt kam. Weitere Tabletten. Seine Zähne tun ihm weh. Er kann nichts mehr essen. Nur Suppen und die schmecken ihm nicht. Prinzipiell will ihm gar nichts schmecken. Kein Wunder dass er abnimmt. Wenn das Fieber weg ist kann er diese Woche zum Zahnarzt. In seinem innersten zweifelt er aber daran, ob es sich überhaupt noch lohnt. Die vom Krankenhaus meinten, dass sie wegen einem Termin zur Strahlentherapie anrufen würden. Sie haben sich nicht wie vereinbart gemeldet und er sagte "Weil's eh schon egal is'."
Schon länger her dass er draußen war. "Soll ich draußen umfallen!" und ich höre große Verzweiflung mit raus. Ihm ist ständig schwindlig. Heute hat er Fieber gemessen. Das Thermometer zeigte 34,8 an. Ich sagte ihm, dass er es wahrscheinlich nicht richtig gemacht hat. Er dementiert und macht es noch einmal. 34,7. Jemand erklärt irgendwas und er antwortet: "Ich brauch einen Sarg, das meinst du." Diese Sprüche gab es in den letzten Wochen zuhauf, aber stetig entschwand ihnen der unterschwellig augenzwinkernde Galgenhumor. Hoher und niedriger Blutdruck wechseln sich ab. Heute sind ihm vor seiner Tochter die Tränen gekommen. Es geht zu Ende mit ihm, soll er gesagt haben. Ich sah nur wie sie seine Hand auf seinen Rücken legte und er sich leicht zitternd den Kopf hielt. Dieser Mann ein Häufchen Elend? Weiß nicht was ich davon halten soll. What goes around, comes around?
Als ihm heute die Fernbedienung des Fernsehers von der Armlehne der Couch fiel, hätte er am liebsten gleich wieder geweint. Alles was passiert ist sein Pech. Alles was passiert zeugt von seinem Unglück. Ob er seinen 70. Geburtstag noch erlebt, frage ich mich. Wann hat er eigentlich Geburtstag? Irgendwann im September habe ich vor kurzem irgendwo auf einer alten Glückwunschkarte gelesen. Davon konnte ich auch sein Alter ableiten. Ich weiß nicht wann genau er Geburtstag hat, obwohl ich, so weit ich zurückdenken kann, mit ihm zusammen lebe. Das ist mit meinem Vater nicht anders. Und wo ist der? Keine Ahnung. Ich glaube er hat eine neue Freundin. Neue Errungenschaften werden dem Sohnemann nicht vorgestellt, das war und bleibt so. Aber wo zum Teufel ist er? Wie so oft nicht auffindbar wenn alles zusammenbricht. Und ich selbst merke dass ich mich auch immer mehr verstecke. Was ich nicht erfahre, raubt mir nicht den Schlaf und selbst wenn ich's erfahre ist es mir nachdem es ausgesprochen wurde schon wieder egal. Jeden Tag fragt man mich wie's ihm geht. Ich sage schlecht. Die Leute ziehen ihr Gesicht durch eine Dreckpfütze aus Trauer. Ich gehe weiter, ziehe mein Gesicht aus und lasse es auf den Boden fallen. Warum bin ich so ekelhaft apathisch? Warum finde ich nicht den Draht zu diesem sterbenden Menschen der mein Großvater ist, um einmal in unser beider Leben so miteinander zu sprechen, wie es Enkel und Großvater sollten ... ? Knochenzersplitternde Erleuchtung würde ich mir aus seinen Worte erhoffen und ein klein wenig großväterliche Nähe, wie ich sie in meiner Kindheit nur sehr selten erleben durfte und die mir bis heute kostbare Erinnerung blieb. Hätte er die Wahl gehabt sich seine Familie neu zusammen zu stellen, ich und viele andere wären wohl nicht mehr dabei. Aber natürlich lieben wir ihn alle. Familie ist Liebe und Liebe tut verfickt noch mal weh.
Erst heute kam jemand, der viel Leid in mein zuhause brachte, zu mir und sagte, dass es jemanden wie ihn kein zweites Mal gibt. Wie besonders er ist. Immer hilfsbereit, tüchtig, freundlich. Eigenschaften die es nicht wert waren familiär eingebracht zu werden? Mir drehte sich der Magen um, bei seinen Worten. Wer war dieser Wichser dass er sich traute zu mir zu kommen und ungefragt ein Loblied mit blutgurgelnder Stimme zu singen. Ich hätte ihm in seine dumme Fresse schreien sollen, wie viele Schmerzen er uns, und indirekt auch dem von ihm Gelobten, bereitet hat. Das ist eine andere Geschichte, eine andere Wunde die unter der dicken Kruste noch vor sich hineitert. Weswegen bin ich noch mal draußen und lasse mich von diesem Kerl bequatschen? Bist du fertig? Kann ich gehen? Wo soll ich hin?
Meine Füße tragen mich ins Wohnzimmer. Dort sitzt sie und weint für sich selbst, verwischt ihre Tränen aber als sie mich sieht. Ich schaue sie an und überlege kurz was sie alles auf sich nehmen musste. Sie hat Angst, will nicht mit ihm alleine sein. Verständlich. Ihm geht es schlecht und ich glaube dass sie ihn lieber nicht vor ihren Augen sterben sehen möchte. Die Arbeit macht mich fertig. Viel zu selten bin ich daheim und sobald ich es bin, kommt diese arschgefickte Arroganz in mir durch, durch die ich den Rest des Tages irgendwie verbringe, sodass ich am Ende selbst nicht mehr weiß was ich überhaupt getan habe, Hauptsache es hatte nichts mit Krankheit und Depressionen zu tun. Was bleibt mir zu sagen außer dass mir schlecht von mir selbst ist ...
Was kann ich euch mit auf den Weg geben? Ich richte mich an alle Frauen. Lest ihr das? Wohl eher nicht, aber die wenigen die es lesen, euch möchte ich sagen, dass ihr euren verdammten Verstand benutzen sollt. Kein Mann und ich wiederhole, KEIN MANN, sei er auch noch so am Arsch ... kein Mann ist es wert von euch gerettet zu werden wenn er euch wie Scheiße behandelt. Lasst sie wimmern, lasst sie jammern, helft ihnen nicht auf wenn sie es "eigentlich nicht verdient" haben. Auf was ich hinaus will: Meine Oma hat ihn vom Boden gekratzt. Sie hatte Mitleid als dieses Messer in seinem Rücken steckte. Sie heiratete ihn. Sie gab ihm ihr Geld. Sie schuftete sich die Haut von den Händen. Sie hatte kein verficktes Leben! Früher war alles anders, heute hat sich vieles geändert (Frauen sind selbstbewusster und ich begrüße das), aber ich möchte es nur erwähnt haben, falls es da draußen immer noch ein paar Menschen gibt, die nicht kapieren wie unglaublich wertvoll das Leben ist. Fickt eure Religionen, fickt sie! Ich bin selbst ein sehr gläubiger Mensch aber vergesst diese Scheiße von wegen Paradies und Leben nach dem Tod und weiß der Fick! Ihr lebt nur einmal, so viel ist sicher. Was ihr in eurem Leben nicht mehr seht, das werdet ihr nie mehr sehen können. Falls wir doch alle die Möglichkeit haben sollten, ein Leben nach dem Tod geschenkt zu bekommen, dann nehmt dieses Geschenk an. Bis dahin können wir uns nur auf das Verlassen was uns sicher ist, nämlich dass wir nur ein einziges Mal leben. Ich schreibe es noch einmal, damit ihr es auch wirklich gelesen habt: Das Leben ist wertvoll! Manche merken das erst zu spät und ich schaue in Richtung Schlafzimmer, wo zwei Menschen in getrennten Betten liegen, während der eine panische Angst vor dem Tod und der andere panische Angst vor dem Verlust hat, weil so unendlich viel schon verloren ging und nie mehr nachgeholt werden kann.
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