Abgelenkt

Der langweilige Blog eines langweiligen Schriftstellers.

Montag, Oktober 15, 2007

Taschentücher

Die Sonne scheint durch's Fenster und bezieht den gesamten Raum mit dem Schattennetz des Vorhangs. Wo anfangen? Ich weiß es nicht. Kann man ohne weiteres vorhersagen was man gleich denken wird? Ich kann es nicht und genau so wird es sich mit den kommenden Zeilen verhalten.
Zuhause hat sich einiges geändert, dennoch bleibt alles beim Alten. (ja, beim Alten)
Meine Tante hielt sich in der letzten Zeit ein wenig zurück. Sie unternahm nur noch die Fahrten ins Krankenhaus und besuchte uns nur sehr selten. Die Arbeit in ihrem Haushalt wird nicht weniger und sie ist öfters krank, klagt meist über Kopfschmerzen. Wie es im Kopf meiner Oma zugeht möchte ich wissen. Was sie bis heute für ihren Mann geleistet hat ist schier unmenschlich und ich wiederhole erneut, dass ich nicht weiß ob ich dasselbe für ihn getan hätte, wäre ich an ihrer Stelle. Sie hat ihre Anschuldigungen und ihre Kritikäußerungen fast gänzlich unterlassen. Inzwischen ist es so, dass sie ununterbrochen eine abwehrende Haltung einnehmen muss, weil ihm nichts passt und nichts schnell genug geht, obwohl sie bis zum Umfallen schuftet. Ich darf euch ins Gewissen rufen dass sie 79 Jahre alt ist (fast 10 Jahre jünger als er) und trotz schmerzender Füße und Gehschwierigkeiten unendliche Wegstrecken für ihn in Kauf nimmt. Sie sollte Kilometergeld bekommen und sie würde sich nie mehr über fehlendes Geld beschweren. Was er dagegen abzieht ist nur noch hässlich. Meine Oma hört nicht mehr so gut wie früher. Klar, manchmal sagt sie aus reiner Gewohnheit "Was?" oder mimt die taube Seniorin aus welchem Grund auch immer, er reagiert darauf aber stets im garstigen Ton. Er fährt jeden an, jeden. Er versteht selbst nichts mehr so wirklich, ich wage sogar zu behaupten, dass er schlechter hört als sie, obwohl seine Ohren vielleicht sogar die besseren sind.
Vor kurzem ist er im Wohnzimmer gestürzt, einfach so, ohne ersichtlichen Grund nachdem er sich von seinem Sessel erhob. Dabei stieß er gegen den Schrank, worauf sich eine Klapptür öffnete die mit ihrer spitzen Ecke eine lange Schnittwunde in seine Wange riss. Sein rechtes Bein versagte, erzählte er mir als ich an seinem Bett stand um das Pflaster zu lösen und zu schauen ob die Wunde bereits trocken war, was lange nicht eintrat. Wahrscheinlich ist es ihm vorher eingeschlafen. Er legt sein rechtes Bein stets auf einem Holzstuhl ab, wenn er vor dem Fernseher sitzt. Jetzt stand zur Diskussion, dass er sich nicht mehr zutraue nachts aufs Klo zu gehen. Er hätte Angst erneut zu stürzen und ich persönlich würde mich auch sicherer fühlen, denn sollte das eintreten und er z. B. bewusstlos liegen bleiben, würde schlafend keiner etwas davon mitkriegen. Also mussten zwei Urinflaschen her. Darauf sagte ich: "Ja, müssen wir mal schauen ob die heute noch offen haben, damit wir welche kaufen können." Er zornig: "Ist das so schwer zu verstehen dass ich solche Flaschen brauch?" Versteht ihr jetzt was ich meine? Egal was ich sage, er hört mich nicht. Er könnte mir erklären dass eins plus eins zwei ist, ich könnte sagen "Das ist richtig." und er würde mich anschnauzen, warum ich so dumm bin und mir das nicht in den verfickten Schädel geht, dass eins plus eins diese arschgefickte zwei ergibt. Seine Konditionierung ist durchweg negativ. Ein anderes Beispiel: Meine Tante aus Wörth zieht nach Neutraubling. Wir erzählen es meinem Opa. Anstatt sich darüber zu freuen gibt er trockene Argumente, warum es für sie besser wäre nach Neutraubling zu kommen, als hätte er nicht kapiert dass sie sowieso hier herzieht (ins gleiche Haus in dem schon meine andere Tante wohnt, damit wäre die komplette Familie - bis auf einen Ausreißer - standortmäßig gsehen fast schon nachbarschaftlich nahe beieinander). Nur ein Beispiel von vielen.
Es ist so eigenartig daheim. Desöfteren schlafe ich im selben Raum wie meine Oma und mein Opa, aber in einem eigenen Bett, klar getrennt von den ihrigen. Ich höre wann er in seine Flasche reinpisst und ich merke wann er sich die Tränen vom Gesicht wischt. Und ständig ist er am meckern. Meine Oma tut ihr Bestes, nichts ist ihm genug. Alles muss perfekt sein, kein leerer Becher darf neben ihm stehen, kein benutztes Taschentuch darf dort liegen bleiben wo er es hinlegt. Dieser Mensch, der noch nie auf Reinlichkeit geachtet hat und sich noch nie sonderlich darum scherte, was auf dem Tisch liegt, verlangt nun penibele Ordnung und von anderen die Fähigkeit, seine Gedanken zu lesen. Mein Vater sollte einen Schlüssel aus der Tasche im Schlafzimmer meines Opas holen. Er hatte ihn und stand noch im Flur um diesen Schlüssel vom Schlüsselbund zu lösen. Nach wenigen Sekunden schreit mein Opa, ob er jetzt den Schlüssel endlich habe. Ich erklärte ihm in ruhigem Ton dass es doch nicht pressiere, da fuhr er mich an, dass er das erledigt haben möchte. Im Grunde genommen macht er also nichts anderes, als gegen seine innere Uhr anzuschreien. Seine Verbitterung über unsere Unfähigkeit alles nach seinen (nicht immer offensichtlichen) Wünschen zu erledigen, ist nichts anderes als eine Reaktion auf diesen finalen Lebensabschnitt, den er so sehr fürchtet, der aber von Tag zu Tag spürbar näher rückt. Ich unterlasse eine Vorhersage. In der Vergangenheit erwiesen sich meine Befürchtungen als vollkommen falsch, denn bis heute lebt er ja noch. Schau ich ihn mir aber so an, diesen schrecklich abgemagerten Körper, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich diesmal wieder falsch liegen würde wenn ich sage, lange geht's nicht mehr. Gott bewahre es. Jedenfalls behauptet er ständig zu essen aber nicht mehr zuzunehmen, so wie es vor Monaten noch in einer ähnlichen Situation der Fall war. Stimmt das, kann sich jeder vorstellen in welche Richtung es diesmal geht.
Durch mein Studium entgeht mir vieles, das zuhause passiert. Ich bin erschrocken als ich ihn von meinem Zimmer aus den Flur entlang gehen sah. Früher hatte er extrem dicke Waden auf die er sehr stolz war. Sobald die ersten wärmeren Sonnenstrahlen des Jahres die Wiesen erhellten, ging er in kurzen Hosen nach draußen. Jetzt sind diese Waden nicht mal mehr so dick wie meine. Alles an seinem Körper scheint wie eingefallen. Wer weiß was für eine Erscheinung er früher war, kann heute nichts anderes als erschrecken. Ich würde euch gerne dieses Bild zeigen dass ich sehe, wenn ich am Schlafzimmer vorbeigehe, wo dieser Mann mit dem Schnitt im Gesicht in seinem Bett liegt und sich nicht mehr rührt. Eine Vorher-/Nachher-Bild, damit ihr seht wie ernst es ist. Klar dass ich seine Menschenwürde bewahren möchte und keine Bilder von ihm mache, vor allem auch, weil ich ihn anders in Erinnerung behalten will.
Rausgegangen ist er schon seit Ewigkeiten nicht mehr, nur für die Chemo- und Strahlentherapie und dann auch nur bis zum Auto. Seine Freunde mit denen er sein Leben lang draußen abhing um Bier zu trinken und sich zu unterhalten, mit denen möchte er nichts mehr zu tun haben. Warum? Weil er sich nicht mehr unterhalten kann. Dass er nichts mehr richtig versteht war kein Witz. Außerdem ist es wahrscheinlich so, dass seine Freunde ihn durch ihre Physiognomie ständig vor Augen führen, wie todkrank er ist.
Meine Opa war ein leidenschaftlicher Bastler. Während seiner beruflichen Tätigkeit hatte er viele Patente auf Erfindungen in einem großen Unternehmen das Anlagen für die Getränkeindustrie herstellt. Er baute Vogelhäuser, darunter auch ein größeres, das er einst schwimmfähig machte und in einen See ließ, wo Enten ihr Nest darin bauten. Er restaurierte Fahrräder die andere wegschmissen und bastelte noch viele andere Sachen, z. B. Roller für uns Kinder.
Wenn ich irgendetwas brauchte ging ich zu ihm und er baute oder reparierte es. Jetzt kann er nicht mal mehr die Tasten der Fernbedienung richtig drücken. Er verbrachte sehr viel Zeit in seinem Bastelkeller, der aus drei Teilen bestand. Einer davon wurde nicht sehr oft benutzt. Der andere ist der Kellerraum des Hausmeisters, zudem mein Opa allerdings freien Zugang hatte und die meiste Zeit auch dort verbrachte, besonders im Winter wo er fast dort zu wohnen schien. Der andere Teil stand ursprünglich immer leer und wurde von ihn deswegen kurzerhand mit Fahrrädern vollgestellt, die ihm zur Restaurierung geschenkt wurden oder ihm selbst gehörten. Ja, man könnte behaupten darin war sehr viel seines Herzens verbaut. Wenn er anderen die Fahrräder zeigte, tat er dies nicht mit wenig Stolz. Jetzt haben sich Nachbarn - eigentlich langjährige Freunde - dazu entschlossen, diesen Raum leerräumen zu lassen, damit sie dort Wäsche aufhängen können. Begründet wird dies damit, dass er trotz ihrer ständigen Zurufe nicht mehr das Haus verlässt und deswegen wohl auch keine Verwendung mehr für diesen Raum hat. Auch sein Werkzeug aus dem anderen Raum wollte man weghaben. Ich habe leider nicht gesehen wie er darauf reagiert hat, nach der Erzählung meiner Oma zu beurteilen, schien er aber in Tränen zusammengebrochen zu sein. Ich kann mir vorstellen wie er sich fühlt. Man könnte es damit vergleichen, dass man praktisch schon im Sterben liegt und die Nachmieter bereits die Wohnung um einen herum ausräumen, damit sie sich schon mal häuslich einrichten können. Ich halte das für eine äußerst madige Aktion und frage mich, warum das so plötzlich sein musste. Innerhalb weniger Tage war ein fester Bestandteil seines Lebens buchstäblich weggeräumt. Wie viel Einfühlungsvermögen darf man von Leuten verlangen, die ihn schon mehrere Jahrzehnte lang sehr gut kennen? Ein bisschen erbost war ich über das Verhalten meiner Oma, die das anscheinend als gute Idee empfand und sehr viel zwischen den Parteien vermittelte, damit dieser Umzugsdreck sehr schnell über die Bühne ging, aber ich habe ihr bereits gesagt wie ich darüber denke und ich finde auch, dass mein Opa das gebraucht hat, damit er erkennt, dass er nicht ständig in seinem Bett liegen kann, sondern rausgehen muss. Hat's was daran geändert? Nein, er verlässt noch immer nicht die heimischen vier Wände.
Heute habe ich ihm angeboten, mit ihm nach draußen zu gehen, irgendwo hin, wo er mit niemanden reden muss und wo keiner ist, der ihn kennt. Er sagte, dass er sich erholen muss und es ihm im Bett am besten ginge. Letzteres glaube ich ihm nicht. Als er später vom Klo kam, sah ich einen hässlichen, blutigen Ausschlag am Oberschenkel seines rechten Beins. Meine Oma hatte mir bereits davon erzählt, ich hatte dem aber keine Beachtung geschenkt, weil ich wichtigeres zu tun hatte, wie zum Beispiel Taschentücher vollwichsen (ich weiß nicht was mit mir los ist, das ist nicht normal). Ich sprach ihn auf seinen Ausschlag an. Seine linke Hand zitterte. Er konnte sie auf einmal nicht mehr bewegen. Ich wurde nervös und seine Augen wurden feucht. Ich fragte was los sei und mit verweinter Stimme sagte er, dass das desöfteren vorkomme aber nach kurzer Zeit wieder verschwinde (nur um Minuten später wiederzukommen). Er ging zurück ins Bett, ich wusch seinen Trinkbecher aus, so wie er's mir vorher noch befahl. Ich stand an seinem Bett und er sagte, er würde jetzt Radio über seine Kopfhörer hören bevor er zu weinen anfing. Ich setzte mich zu ihm, weinte selbst und griff nach seiner Hand. Wäre meine nicht so kalt gewesen, hätte ich sie ihm etwas länger gehalten. Stattdessen legte ich meinen Arm um ihm. Das war glaube ich das erste Mal in meinem Leben, in dem ich es tat um ihn zu trösten und um ihm meine Liebe zu vermitteln. Ich kämpfte dabei gegen meine eigenen Tränen, etwas erfolgreicher als jetzt, denn gerade laufen sie mir über die Wangen (ich schäme mich nicht das zuzugeben). "Wir wissen wie du dich fühlst und es ist nicht leicht für uns." Ich wünsche mir, dass er das versteht.

Ich schaue von hier aus in Richtung Schlafzimmer und sehe die Flasche Bier auf dem Fensterbrett, die ich ihm vor einer Stunde geöffnet habe. Es ist schon sehr lange her dass er etwas trank. Vor kurzem äußerte er den Wunsch ein Bier trinken zu wollen. Was soll man machen? Ihm diesen Wunsch abschlagen? Warum, frage ich. Das mit dem Bier ist vielleicht keine schlechte Idee. Ich vergesse die ganze Straight-Edge-Scheiße, sauf mich halbtot nachdem ich mich durch all die Fotzen in meinem "Freundeskreis" gefickt habe und fahre mit einer Alkoholvergiftung im Krankenwagen herum, damit ich einmal weiß wie es ist, wenn er in so einem Krankenwagen liegt. Die Sirene. Der Arzt. Die Schwester. Kotzen und so gut es geht lächelnd daran ersticken oder es zumindest versuchen, bis sie dir die Luftröhre freisaugen und den verfickten Magen auspumpen. Hey, ich wäre ja besoffen wie ein Pferd und würde keine Schmerzen spüren. Das wird sicher voll geil. Ach, fick es.

In den letzten Tagen übermannte mich ein komisches Gefühl wenn ich nach einer Stunde Heimfahrt von der FH im Treppenhaus stand. Wenn ich diese Treppen hochgeh und die Haustür öffne, wird mir meine Oma dann eine schlechte Nachricht überbringen? Bisher empfingen mich alle schlechten Nachrichten oben an der Haustür. Als mein Opa den Schlaganfall damals hatte, als er ins Krankenhaus musste, als der Krebs diagnostiziert wurde, als er wieder ins Krankenhaus musste, als er stürzte und so weiter und so fort. Von Tag zu Tag fällt das Treppensteigen ein bisschen schwerer. Von Tag zu Tag brauche ich länger um nach Hause zu kommen. Tagtäglich frage ich mich ...
... was eigentlich los ist ...

... und in der Schule bin ich fröhlich und mache Späße, werde aber von meinen neuen Freunden komisch angesehen, wenn ich nicht nach den Vorlesungen noch ein wenig Zeit mit ihnen verbringe, sondern stattdessen gleich nach Hause fahre ...

... muss ja keiner wissen ...

(dieser Blog-Eintrag ist nicht korrigiert und wird auch nicht mehr von mir durchgelesen)

Labels:

Counter